Leserin aus Frankfurt
Der Roman von Meike N. Winter
Bis sie in die Schule kommt, glaubt Rezabell, dass die Welt nur aus ihrer Mutter Madka, ihr selbst und der kleinen, versteckten Hütte im Allgäu besteht. Doch mit Macht bricht die Außenwelt in die vermeintliche Idylle ein... Madkas engste Freundin Clara will eine sagenumwobene Burg in Böhmen finden und gerät dabei in den Sog der Tagebücher ihrer Großmutter und deren Erlebnisse ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg. Die Lebensgeschichten der Frauen und ihre Schicksale sind eng verwoben und spannen einen ereignisreichen Bogen über Jahrzehnte und Länder hinweg. Ein nachdenkliches Buch über Frauen und ihre Lebenswelten gestern und heute.
ISBN: 978-3757891855
Format: 12.7 x 1.07 x 20.32 cm
Seitenzahl: 184 Seiten
Preis: 15,60 Euro
Der Roman ist auch als E-Book erhältlich
Behutsam schloss Clara das ledergebundene Tagebuch ihrer Großmutter und ließ die Hand noch einen Augenblick auf dem Umschlag ruhen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihre Großmutter sich gefühlt hatte, was sie gedacht hatte und woher sie die Kraft nahm, all das durchzustehen und dabei noch für ihre Eltern und ihre Kinder zu sorgen. Nur in wenigen Zeilen spiegelte das Tagebuch Gefühle wider, die meisten Seiten waren gefüllt mit eher sachlichen Beschreibungen des Erlebten. Doch Clara hatte gelernt, ihre Großmutter zu verstehen. Hatte erst jetzt, lange nach ihrem Tod, einen ganz neuen Blick auf sie gewonnen und sog die Passagen aus den handgeschriebenen Seiten auf, in denen sich zeigte, was dieser Frau vor so vielen Jahren wichtig gewesen war.
„Im Winter, wenn nicht so viel Arbeit war besuchte ich die Klosterschule wo Handarbeiten und Nähen gelernt wurde. Das war eine schöne Zeit. Die Klosterschwester las uns gute Bücher vor...“
Rezabell band das weiße Tuch auf ihrem Kopf noch einmal neu. Dann nahm sie entschlossen den hölzernen Rechen in die Hand und ging zielstrebig über den schmalen Damm zwischen den Wasserbecken zu den Moulons blancs, den kleinen Salzbergen, die schon zwischen den Feldern lagerten. Das Salz schimmerte hellrosa in der Sonne. Der Wind strich heute kaum merklich über Rezabells nackte Unterarme und spielte mit den feinen Härchen. „Rezabell, komm, setz dich her zu mir!“ Vor der kleinen Holzhütte in den flachen Dünen saß Mael und winkte Rezabell zu sich. „Das Salz ist herrlich geworden!“, rief Rezabell im Näherkommen, „Das Wetter war perfekt in den letzten Tagen!“ „Wir ernten so viel Fleur de sel, wie wir können: Morgen fangen wir bei Sonnenaufgang mit den nächsten Becken an. Aber trotzdem musst du was trinken und eine Pause machen“, sagte Mael und zog sie neben sich auf die Bank. Seine dunkelbraune, knorrige Hand reichte ihr ein Glas Wasser mit Zitronenscheiben.
Madka stellte den Motor ab und sprang aus dem Land Rover. Sie streckte sich, der Rücken tat ihr weh, nachdem sie nun seit drei Wochen unterwegs war. Die Sitze waren alles andere als bequem und die Kupplung musste sie mit so viel Kraft treten, dass sich ihr Rücken schmerzhaft gegen die Lehne drückte. Aber das alles war es wert. Eines Morgens war Madka aufgewacht und hatte gewusst, dass sie nun endlich ihre Reise beginnen würde. Sie hatte gerade ein großes Projekt für ihren Auftraggeber abgeschlossen. Also packte sie ein paar Sachen zusammen, eine Matratze, die sie ausgeklappt hinten auf die Ladefläche legen konnte, Schlafsack, Kissen, Bücher, Tagebücher, Taschenlampe, Gaslampe, einen kleinen Kocher, Kleidung, Waschzeug und ein paar Vorräte. Sie marschierte zu Clara und nahm sie in die Arme. „Ich werde eine Weile weg sein. Ich melde mich mal von unterwegs.“ Dann stieg sie ein, legte für einen Moment die Hände auf das große, dünne Lenkrad und atmete tief ein und aus. Spontan beschloss sie, der Autobahn nach Norden zu folgen, um erst mal ein paar Kilometer zwischen sich und Hinterstein zu bringen.
Ursula
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